Das katholische Berlin hält verborgene Schätze bereit


Marco Gallina schreibt am 04.10.2020 in der "Tagespost"


Ein Schattendasein fristeten Katholiken in Berlin. Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands unterscheidet sich das Lebensgefühl der Berliner Katholiken durchaus. Eine Neubesinnung auf das Erbe der Diaspora und Weltkirche könnte weiterhelfen.


Zitate aus dem Beitrag von Marco Gallina:

Vereinigung inclusive Ressentiments

Zugleich ist die Hedwigskathedrale Sinnbild für die „katholische Wiedervereinigung“ des Landes – inklusive Ressentiments. Denn die Kirche war für die Katholiken in der DDR ein Symbol der Selbstbehauptung gegen das kommunistische Regime. Ganz bewusst wurde der Düsseldorfer Architekt Hans Schwippert mit dem Wiederaufbau betraut. Schwippert hatte 1949 das Bonner Bundeshaus entworfen. Die Katholische Kirche hielt nicht nur ideell an der Einheit fest: Das Bistum Berlin blieb ungeteilt. Die von Schwippert entworfene Bodenöffnung richtete den Blick auf die katholischen Märtyrer im Nationalsozialismus. Das architektonische Programm konnte demnach auch als Kampfansage gegen den kommunistischen Totalitarismus verstanden werden, den es nun ebenso zu überwinden galt. Den Westberlinern blieb die Identifikation spätestens ab den 1960ern unmöglich, als die Reise nach Ostberlin erheblich erschwert wurde.

Fast neupreußisch

Auf katholischer Ebene ähnelte der Dissens zwischen Ost- und Westdeutschen frappierend den Erfahrungen im persönlichen, politischen wie wirtschaftlichem Bereich. Der übereifrige Beglückungswille der Westdeutschen wurde als Bevormundung, wenn nicht Arroganz interpretiert. In einer fast neupreußisch anmutenden Mentalität wollte man eine „Hauptstadtkathedrale“ gestalten, auf die Gefühle der ostdeutschen Gläubigen wurde dabei wenig Rücksicht genommen. Der Kunstwissenschaftler Nikolaus Bernau konstatierte: „Wer Hand an diese Kirche legt, der ignoriert aus dieser Perspektive auch die Lebensläufe einer Generation von ostdeutschen Katholiken.“ Das emotionale Verhältnis der Katholiken zur Hedwigskirche, die mit ihrem gesamtdeutschen Programm die Einheitsidee einerseits, und als Zufluchtsort der Diaspora den Widerstandsgeist andererseits repräsentierte, spielte für die Neu- und Westberliner in ihrer Vorstellungswelt aus Effizienz und Großmannssucht keine Rolle. Es ist der alte, banale Witz vom Besserwessi, der dem etwas plumpen Cousin aus dem Osten erst mal zeigen muss, was wirklich gut ist. Dazu zählen auch die Schlichtheit und Kargheit westdeutscher Kirchen, die nunmehr auch in Sankt Hedwig einziehen soll.

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