"Kirche war gestern" Beitrag der FAS von Markus Günter

Zur Anregung einer privaten Diskussion wird der Text des Beitrags zitiert

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,  25. Dezember 2016,  Nr. 51,  Seite 8  POLITIK

Kirche war gestern

Den Pfarrern in Deutschland laufen die Gläubigen davon. Ist der moderne Mensch religiös taub? Oder sprechen Geistliche einfach die falsche Sprache?

Von Markus Günther

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Als Dietrich Bonhoeffer im Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin saß, von Landsleuten und Glaubensbrüdern verraten und verkauft, den sicheren Tod vor Augen, da machte er sich Gedanken über Advent und Weihnachten. Das menschliche Leben an sich, schrieb Bonhoeffer 1944, gleiche dem Dasein in der Gefängniszelle: Befreiung kann nur von außen kommen. Advent ist das Warten auf die Ankunft des Erlösers, Weihnachten der Augenblick, in dem der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird und sich die Tür zu einem anderen Dasein öffnet – Gott kommt in die Welt und befreit den Menschen. Einfache, ergreifende Gedanken, die den Kern des Weihnachtsfestes und der ganzen christlichen Botschaft illustrieren.

 

Von allen anderen Religionen unterscheidet sich das Christentum dadurch, dass Gott keine erdachte Idee bleibt, kein abstraktes Wesen, sondern als Mensch in die Welt gekommen ist, um dem Menschen nahe zu sein. Aber wird die Botschaft noch verstanden? Immer mehr Deutsche denken bei Religion nicht an Befreiung, sondern an Bevormundung. Sie halten Glaube für Spinnerei oder Selbsttäuschung und die christlichen Kirchen für Apparate, die man mit Parteien vergleichen kann, mit Wohlfahrtsverbänden oder internationalen Organisationen. Leute wie Bonhoeffer, Martin Luther King oder Mutter Teresa sind zwar immer noch Vorbilder, aber es wird oft unterschlagen, dass sie die Kraft für ihr Heldentum aus Glauben und Gebet schöpften. Unbeugsamkeit, Nächstenliebe und der Kampf für Menschenrechte passen nach wie vor gut in die Zeit, die Beziehung zu Gott wird dagegen zur Fußnote. Oder schlimmer noch: Der Hochmut der Heutigen schreibt die Gottesbeziehung solcher Helden der Unaufgeklärtheit früherer Generationen zu. Glaube war gestern.

 

Gehört der Islam zu Deutschland? Die Wirklichkeit ist über die Frage und alle hitzigen Debatten, die sich daran knüpften, längst hinweggegangen. Richtig muss die Frage heute lauten: Wird das Christentum in Zukunft noch zu Deutschland gehören? Die Antwort ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint in einem Land mit 45 000 Kirchen, mehr als einer Million kirchlichen Mitarbeitern und 46 Millionen eingetragenen Christen. Aber wer ist eigentlich ein Christ? Ist die Mitgliedschaft in einer Kirche ausschlaggebend, die gezahlte Kirchensteuer? Die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst, das Engagement in der Gemeinde? Oder zählt am Ende das, was einer tatsächlich glaubt? Aber egal, welchen Indikator man verwendet – fast alle weisen seit Jahren nach unten. Nur die Einnahmen steigen kurioserweise vorläufig weiter: Im Jahr 2015 nahmen die beiden großen Kirchen 11,5 Milliarden Euro ein, mehr als je zuvor. Denn die gute Konjunktur kompensiert einstweilen die schwindende Mitgliederzahl. So kann die Fassade noch eine Weile aufrechterhalten werden.

 

Politiker und Kirchenvertreter reden sich die Wirklichkeit gern schön und berufen sich, wenn’s eng wird, auf „christliche Werte“. Die wirken angeblich, wenn schon nicht direkt, dann doch irgendwie indirekt, überall in Deutschland fort. Aber stimmt das? Ist das Schlagwort von den christlichen Werten nicht längst der kleinste gemeinsame Nenner geworden, auf den man sich gerade deshalb einigen kann, weil damit so viel Gutes angedeutet und so wenig Konkretes gesagt wird? 

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Die Säkularisierung oder, besser: die Entfremdung zwischen den christlichen Kirchen und den Menschen ist durchaus messbar. Umfragen zeigen, dass ein radikaler Atheismus zwar vorläufig ein Minderheitenphänomen ist, die meisten Deutschen aber die zentralen Inhalte des Christentums nicht mehr akzeptieren. Zwei Drittel glauben nicht an ein ewiges Leben. Selbst von denen, die formal noch in der Kirche sind, glaubt nur eine Minderheit an die Auferstehung der Toten. Aber steht und fällt nicht gerade damit der christliche Glaube? Jeder sechste Konfirmand in Deutschland glaubt nicht an Gott. Von den allermeisten Christen abgelehnt wird die Vorstellung von einem Jüngsten Gericht – also jener Glaube an eine nachgeordnete Gerechtigkeit, der den Menschen über Jahrtausende Hoffnung gespendet hat. Heute wird das als Drohung und Einschüchterungsversuch empfunden. Religion muss, wenn überhaupt, ein vorbehaltloses Heilsversprechen bieten. Kein Wunder, dass Jesus zu Weihnachten am beliebtesten ist: Da liegt er noch als Baby in der Krippe und lächelt stumm. Macht er erst einmal den Mund auf, fordert Umkehr, Selbstaufgabe und bedingungslose Liebe, ist es mit der Beliebtheit schnell vorbei.

 

Wie reagieren die Kirchen darauf, dass sich der Glaube in Luft auflöst? Der finanzielle Reichtum und die spirituelle Armut führen zu einem blindwütigen Aktionismus, der auf gesellschaftspolitischen Nebenkriegsschauplätzen den Boden gutmachen will, der auf dem zentralen Schlachtfeld des Glaubens verlorengegangen ist. Man arbeitet sich am „integrierten Klimaschutzkonzept der evangelischen Kirche“ ab und macht sich, weil man katholischerseits nicht nachstehen will, auf zu einem „Pilgerweg für Klimagerechtigkeit“. Unentwegt fordern die Kirchen „gesellschaftliche Teilhabe“ und „faire Löhne“. Im Auftrag der EKD haben sich „geschlechterbewusste Exeget_innen“ die Bibeltexte kritisch angeschaut und die Frage aufgeworfen, ob die zwölf Jünger wirklich Männer waren. Und der Bund der Deutschen Katholischen Jugend hat die christliche Botschaft neu formuliert: „Jede*r wird von Gott so angenommen, wie er*sie ist.“ Eine andere Kommission ist fertig und hat eine neue Bibelübersetzung unter Dach und Fach gebracht. So ist aus Brüderlichkeit Geschwisterlichkeit geworden, Paulus wird die Anrede „Brüder und Schwestern“ in den Mund gelegt, was er zwar so nicht gesagt hat, aber bestimmt hätte meinen wollen. Aus den Wundern Jesu werden „Machttaten“, damit nicht jemand auf die Idee kommt, sich echte Wunder vorzustellen – denn weiß der Himmel, ob der Lahme, bevor er geheilt wurde, wirklich lahm war. So wollen die Kirchen in Deutschland den Anschluss an die Moderne finden. Nicht alles davon ist grundfalsch. Aber glaubt jemand ernsthaft, dass man damit die Menschen in ihren Fragen und Nöten erreicht?

 

Sosehr sich auch beide Kirchen darin überbieten, dem Zeitgeist nachzulaufen, die Abwärtsbewegung haben sie nicht stoppen können. Allein seit der Jahrtausendwende haben die großen Kirchen in Deutschland rund acht Millionen Mitglieder verloren. Die Menschen laufen in Scharen davon. „Ich habe den Eindruck, der Säkularisierungsschub ist so groß, dass das Ende der Talsohle noch nicht erreicht ist“, sagt der Passauer Bischof Stefan Oster. Vor allem in der jüngeren Generation beobachtet er eine Entfremdung, die früher oder später dazu führt, dass auch die letzte, nämlich nur noch formale Bindung an die Kirche gekappt wird. Oster spricht von einem Exodus und meint damit nicht nur die Kirchenaustritte, sondern auch die große Zahl derjenigen, die sich innerlich verabschieden, auch wenn sie aus Tradition, Gleichgültigkeit oder letzter Verunsicherung noch Kirchenmitglieder bleiben.


Pop-Art-Kirchenfenster von Jamie Rizzi in Essen  _ Foto:  epd
Pop-Art-Kirchenfenster von Jamie Rizzi in Essen _ Foto: epd

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Auch Papst Franziskus hat den deutschen Bischöfen sein Entsetzen über die „Erosion des Glaubens in Deutschland“ mitgeteilt und sie aufgefordert, „die lähmende Resignation zu überwinden“. Franziskus sieht in Deutschland eine Tendenz zum bürokratischen Überbau ohne Glaubensfundament: „Es werden immer neue Strukturen geschaffen, für die eigentlich die Gläubigen fehlen.“ Deutsche Bischöfe, so Franziskus, setzten zu großes Vertrauen „auf die Verwaltung, auf den perfekten Apparat“. Auch Benedikt XVI. meldete sich in diesem Jahr aus seiner Klause zu Wort und warnte sein Heimatland vor einem „Überhang an ungeistlicher Bürokratie“.

 

Auch die Kanzlerin, die sonst nicht zum predigthaften Ton neigt, hielt es schon für nötig, ihren Landsleuten ins Gewissen zu reden: „Wenn Sie mal Aufsätze in Deutschland schreiben lassen, was Pfingsten bedeutet, dann würde ich mal sagen, ist es mit der Kenntnis übers christliche Abendland nicht so weit her. Und sich anschließend zu beklagen, dass sich Muslime im Koran besser auskennen, finde ich irgendwie komisch.“ Wohl wahr. Angela Merkel fordert mehr christliches Selbstbewusstsein: „Haben wir doch auch den Mut zu sagen, dass wir Christen sind.“ Selten ist jedoch die Erkenntnis zu hören, dass Kultur nicht einfach nur bestaunt werden kann, sondern aktiv gelebt und entschlossen weitergetragen werden muss: Entweder man sorgt dafür, dass das Feuer weiterbrennt, oder man steht irgendwann vor einem Haufen Asche. Als Merkel dieses Jahr zu Beginn des Advents auf einer Parteiversammlung forderte, als christliche Partei solle man doch auch mal christliche Lieder singen, wurde sie von ihren Parteifreunden ausgelacht. „Ich meine das ernst“, sagte die Kanzlerin verlegen.

 

Wenn es darum geht, als Christ Farbe zu bekennen, dienen die obersten Vertreter der christlichen Kirchen in Deutschland nicht immer als Vorbild. Beim gemeinsamen Besuch in Jerusalem legten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, und der EKD-Vorsitzende Bedford-Strohm im Herbst ihre Brustkreuze ab – aus „Respekt“ vor den muslimischen Gastgebern. Der Grund ist ehrenwert, aber die Botschaft verheerend: das Kreuz im Dienste der Toleranz verstecken? Wo liegt die Grenze zwischen Respekt und Selbstverleugnung? Nur eine durch und durch verkopfte Kirche bringt solche Fehlentscheidungen hervor.

 

Der Blick auf die führenden Köpfe, auf Zahlen und Trends darf aber auch nicht verdecken, dass das Christliche auch eine intime, auf die Beziehung zwischen Menschen angelegte Sache ist. So verkennt der Blick auf das große Ganze, was im Kleinen an geistlicher Kraft wirkt. Hilfe im Alltag macht keine Schlagzeilen; Orte des Gebets sind für die Medienwelt kein Thema. Die Arbeit an Kranken- und Sterbebetten findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Franziskanerinnen von Maria Stern in Augsburg setzen ihre eucharistische Anbetung, die 1937 als stiller Protest gegen Hitler begann, bis heute fort – eigentlich eine grandiose Geschichte. Junge französische Ordensleute haben mitten im Kölner Innenstadtrummel die verwaiste Kirche Groß St. Martin wieder zum Kloster gemacht – ein ermutigender Aufbruch mitten im Niedergang der deutschen Volkskirchen. 

 

 

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Überall in Deutschland kommen junge Menschen einmal im Monat zum „Night Fever“ zusammen, nicht als fromme Eiferer, sondern als ehrliche Suchende – das dokumentiert die Leuchtkraft des Christentums viel mehr als eine neue Aktionswoche. Es gibt nicht die eine Krise und die eine Lösung, sondern Trends und Gegentrends, Abbrüche, Aufbrüche.

 

Und es gibt jene, die Karl Rahner die „anonymen Christen“ nannte, eine wachsende Zahl von Menschen, die sich von der Kirche verabschiedet haben oder nie dort zu Hause waren und dennoch ein christliches Leben führen, weil sie sich in ihrem Alltag für andere aufopfern, auch wenn sie sich nicht Christen nennen. Das ist einerseits ermutigend, birgt aber andererseits die Gefahr, die Rückbindung an das gemeinsame kulturelle Erbe zu verlieren. Christsein heißt nicht nur, das Gute zu tun, sondern auch, die befreiende Botschaft des Evangeliums weiterzutragen. Das geht nicht in der Anonymität, sondern nur im Bekenntnis.

 

Ist der moderne Mensch taub geworden für diese Botschaft? Haben die Kirchen keine Chance mehr? Dagegen spricht überall auf der Welt der Erfolg der heranwachsenden Freikirchen und Pfingstbewegungen. Ihr Aufstieg zeigt, dass auch der moderne Mensch immer wieder auf die existentiellen Fragen des Daseins zurückgeworfen wird, auf das Woher und Wohin, auf die eigene Sterblichkeit und nicht zuletzt auf die Liebe. Die traditionellen Kirchen werden die Deutungshoheit über diese Fragen verlieren, wenn sie nicht zu einer neuen religiösen Sprache finden, die die Gotteserfahrung überzeugend in Worte und Bilder fasst.

 

Entscheidend dürfte sein, ob es den Kirchen gelingt, eine Erfahrung der Transzendenz zu vermitteln. Oder ob all ihre Bemühungen im Sozialen und Kulturellen verhaftet bleiben, also im Jetzt und Hier. Die Kirche in Deutschland garantiert die Transzendenz immer weniger. Im Gegenteil, oft wird das Sakrale kulturell erlebt, während die Kultur sakral geworden ist. Anders gesagt: Genau das, worum es im Glauben geht, nämlich den Versuch, sich einer transzendenten Wirklichkeit zu nähern, die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten – genau diese Erfahrung wird in der Kirche immer seltener und in den Ersatzformen Kunst, Kultur, Liebe, Sport und Selbstverwirklichung immer öfter gemacht. Wer sich verliebt, schwebt im siebten Himmel, der Film ist göttlich, das Erlebnis im Stadion überirdisch. Der Gottesdienst dagegen ist eine Versammlung guter Absichten.

  

Erst die Berührung mit dem Jenseits öffnet Schleusen für ungeahnte Kräfte, die im Menschen schlummern: „Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat“, notierte Bonhoeffer in der Todeszelle. Er fand so viel Kraft in diesen Gedanken, dass er im Angesicht des Grauens ganz hoffnungsvoll schreiben konnte: „Von guten Mächten wunderbar geborgen . . .“ Die Zeilen aus dem Dezember 1944 wurden zum wichtigsten geistlichen Lied des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie haben nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt.


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